8. Deutsch-Türkischer Wirtschaftstag: Herkunft spielt keine Rolle mehr

Der 8. Deutsch-Türkische Wirtschaftstag des ATIAD wurde vom türkischen Finanzminister Mehmet Şimşek gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, eröffnet.

Birol Kilic, Analyse und Beobachtungen aus Düsseldorf, 5.04.2024

Der 8. Deutsch-Türkische Wirtschaftstag des ATIAD wurde vom türkischen Finanzminister Mehmet Şimşek gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, eröffnet. Der Verband der Türkischen Unternehmer:innen und Industriellen in Europa (ATİAD), der laut Eigendefinition seit seiner Gründung im Jahr 1992 überparteilich, überkonfessionell und unabhängig ist, veranstaltete am gestrigen 4. Mai 2024 im Congress Center Düsseldorf den 8. Deutsch-Türkischen Wirtschaftstag.

Deutsch-Türkische Wirtschaftstage
im Congress Center Düsseldorf

Die gestrigen 8. Deutsch-Türkischen Wirtschaftstage von ATIAD verstehen sich, so Präsident Aziz Sariyer, als Plattform, die allen Teilnehmern die Möglichkeit bieten soll, Informationen zu sammeln, sich inspirieren zu lassen, Visionen zu entwickeln und neue Beziehungen untereinander und miteinander zu knüpfen.

Teilnehmer 

Aziz Sarıyar (Vorstandsvorsitzender von ATİAD) und Hendrik Wüst (Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen) brachten mit ihren konstruktiven und erfrischend emphatischen Reden Schwung in den Wirtschaftstag.

Wüst: „Kannst du was, dann hast du was. Dann bist du was.“

Hendrik Wüst (Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen)


An dieser Stelle der junge und bemerkenswerte Politiker, der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst, mit seinem großen Einfühlungsvermögen, der nicht nur verbindet und Brücken baut, sondern auch Verantwortung überträgt in O Ton:  „Die traditionell guten und tiefen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland haben auch mit der Zuwanderung seit Mitte der 50er Jahre zu tun. Noch besser und enger sind die Beziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und der Türkei. Die Zuwanderer aus der Türkei hatten die Chance zu arbeiten. Die Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Chance, sich etwas aufzubauen. Die Chance, für sich, ihre Kinder und Enkelkinder eine gute Grundlage zu schaffen. Das war die Motivation, Deutschland mitzugestalten. Das ist auch typisch deutsch. Ich kenne das von meinen eigenen Eltern. Meine Eltern gehören zur Generation der Kriegskinder. Mein Vater ist Jahrgang 1938, meine Mutter ist Jahrgang 1942. Die haben, glauben Sie mir, genauso gelitten wie die Türken, die 1950 aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind. Das Motto war: ‚Kannst du was, dann hast du was. Dann bist du was.‘ Das ist das Motiv, das uns verbindet. Unsere Großeltern, unsere Eltern und die Zuwanderer haben in die Hände gespuckt und dieses Land gemeinsam stark gemacht. Unsere Eltern wollten etwas aus ihrem Leben machen. Chancen nutzen. Hart arbeiten. Für uns Kinder war es wichtig, fleißig zu lernen, auch nach dem Motto: ‚Wenn du was kannst, dann hast du was. Dann bist du was.‘ Aber man musste auch was können. Wir sind stolz darauf, Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu sein. Sie haben unser Land vorangebracht und dafür danken wir ihnen von ganzem Herzen.“

Mehmet Şimşek (Finanzminister der Republik Türkei) warb als exzellenter PR- Finanzverantwortlicher des Landes mit Grafiken und Zahlen aus erster Hand um Vertrauen für die Türkei. Keine leichte Aufgabe. Von der Türkei in Richtung Deutschland sind viele Brücken und Vertrauen, die in den letzten 60 Jahren in Deutschland mühsam aufgebaut wurden, durch Wahlkampfimporte aus der Türkei nach Deutschland abgebrochen.

Bemerkenswert

Nach der Eröffnungsrede von ATIAD-Präsident Aziz Sarıyar sprach als zweiter Redner der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst. Ihm folgte der türkische Finanzminister Mehmet Şimşek. Bemerkenswert war, dass Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) während des Vortrags von Finanzminister Mehmet Şimşek (AKP) plötzlich aufstand, den Saal verließ und nicht mehr zurückkehrte, was bei den Gästen zu Irritationen führte. Weder vorher noch nachher gab es eine kurze Erklärung, warum Wüst den Saal verlassen musste, was zu einer doppelten Irritation führte, da sich niemand offiziell dazu äußerte und es zum Thema machte. Gegenüber allen BesucherInnen aus Düsseldorf, aus Deutschland und aus verschiedenen Ländern, falls es jemandem aufgefallen ist, dieser bemerkenswerte Akt eines Ministerpräsidenten ohne Entschuldigung und Erklärung, diplomatisch ausgedrückt, es war unangenehm, besonders nach so wichtigen Worten des Herrn Ministerpräsidenten.  Politik besteht nicht immer nur aus Worten, sondern auch aus Gesten, aus Körpersprache, aus der Art, wie man ein- und ausgeht, aus verschiedenen Symbolen, die manchmal mehr sagen als tausend Worte.
Update 10.05.2024 –Schriftliche Stellungnahme aus dem Büro von Ministerpräsident Wüst: „Ministerpräsident Hendrik Wüst hatte am 4. Mai 2024 nach der Eröffnung des deutsch-türkischen Wirtschaftstages einen Anschlusstermin, um die Festrede bei der Meisterfeier der Handwerkskammer Düsseldorf vor rund 2.500 Gästen zu halten. Dieser Anschlusstermin war den Veranstaltern bekannt. Selbstverständlich war es dem Ministerpräsidenten ein großes Anliegen, die Rede des türkischen Finanzministers Mehmet Şimşek zu hören. Da sich der Ablauf beim deutsch-türkischen Wirtschaftstag aber maßgeblich verzögert hatte, konnte der Ministerpräsident nicht bis zum Ende der Rede bleiben – gleichwohl er deutlich später abgereist ist und damit eine Verspätung bei der Handwerkskammer in Kauf genommen hat. Dies wurde den Veranstaltern auch entsprechend kommuniziert. In seiner Rede beim deutsch-türkischen Wirtschaftstag hat Ministerpräsident Hendrik Wüst seine große Wertschätzung der traditionell engen Verbundenheit und guten Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Nordrhein-Westfalen zum Ausdruck gebracht.“

Christian Lindner (Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland) konnte nicht persönlich an der Veranstaltung teilnehmen, übermittelte jedoch eine Videobotschaft, in der er die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lobte und seine Unterstützung bekräftigte.

Ahmet Başar Şen (Botschafter der Republik Türkei in Berlin) unterstrich als Chefdiplomat der Republik Türkei und Deutschlands mit großer Eleganz die guten Beziehungen im positiven Sinne.

Der deutsch-persische Politiker Bijan Dijr-Sarai (Generalsekretär der FDP) gewann Sympathien durch seine wache und ermutigende Art, kantig in der Sache, hart im Ton, aber höflich und vor allem herzlich im Umgang.

Akif Çağatay Kılıç (Chefberater des Präsidenten der Republik Türkei für Außen- und Sicherheitspolitik) ließ sich entschuldigen, weil er an einer Veranstaltung des Präsidenten und AKP-Vorsitzenden Erdogan teilnehmen musste.

Jens Spahn (Mitglied des Deutschen Bundestages, Ex-Minister) ließ sich wegen des Verlustes eines Angehörigen entschuldigen.

Sehr bemerkenswert war, dass Stephan Keller als Bürgermeister der Stadt Düsseldorf als regionaler Politiker, wo auch seine WählerInnen liegen, hier nicht live dabei war. Aber er schickte eine Videobotschaft. Immerhin.

Von rechts bis links: Ali Paşa Akbaş, Kemal Şahin, Birol Kılıç, İsmail Hacıoğlu

Der als Brückenbauer zwischen Deutschland und der Türkei bekannte Unternehmer Kemal Sahin nahm als Gründungsmitglied, erster Vorstandsvorsitzender und Beiratsvorsitzender von ATIAD ebenfalls an der Wirtschaftskonferenz teil.

Auch der bekannte Brückenbauer zwischen den Ländern, der Tourismusunternehmer Hüseyin Baraner, bereicherte den Wirtschaftstag mit seiner Anwesenheit.

Der Name Esma Gulten, Absolventin der Technischen Universität Istanbul und CEO der Firma Gizil GmbH in Deutschland, sollte man sich merken. Als Absolventin der Elektrotechnik, Nachrichtentechnik und Biomedizinischen Technik an der Technischen Universität Wien als Dipl.-Ing. kann ich nach Ihrem Kurzvortrag nur eines schreiben: Ein unglaublich kluger Kopf aus der Türkei. Sie ist neu als Fachkraft aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ein großer Verlust für die Türkei und ein großer Gewinn für Deutschland.

Erdal Kayacan (Professor an der Universität Paderborn und Präsident der Automatic Control Group (RAT)) ist ebenfalls neu in Deutschland und ein Gewinn für das Land. Er war einer der interessantesten Redner des Tages. Man sollte mehr von ihm hören.

Programmpunkte und Themen der Panels

Grundlagen für eine grüne Zukunft: Energievision, Künstliche Intelligenz und Wirtschaft, Soziale Verantwortung und Sozialwirtschaft in der Wirtschaft.

Bei den Podiumsdiskussionen haben folgende UnternehmerInnen und WissenschaftlerInnen den Wirtschaftstag bereichert: Demet Karaca (Gründerin der Posting Boost GmbH), Dr. Christian Temath (Geschäftsführer der KI-NRW), Esma Gülten (Gründerin und Geschäftsführerin der Gizil GmbH), Sanem O’Sullivan (Director of Development, Product Technology and Application Manager, Cash Management Product Technology and Application Manager bei der Deutsche Bank AG), Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dr. Şahin Albayrak (Gründer und Geschäftsführer von DAI Labor, Professor an der Technischen Universität Berlin), Prof. Dr. Erdal Kayacan (Professor an der Universität Paderborn und Präsident der Automatic Control Group (RAT))

Merve Navruz, Dr. Ali Ercan Özgür (Mitbegründer von İhtiyaç Haritası und INOGAR Cooperative), Enes Ün (ADİDAS Europe, Middle East and Africa (EMEA) Region Social and Environmental Affairs Director), Mert Fırat (UNDP Turkey Goodwill Ambassador, Mitbegründer von İhtiyaç Haritası und INOGAR Cooperative), Burkard F. M. Schemmel (Maersk – Northern Europe Sales Manager) Bernd Grube (Vice President Human Resources der Robert Bosch GmbH).

ATIAD-Präsident  Sarıyar dankt der ersten Generation

Der ATIAD Vorsitzende Aziz Sarıyar hat mit seiner tiefgründigen Rede nicht nur viele Menschen aus der Türkei in Deutschland angesprochen, sondern auch viele Menschen in der EU aus der Türkei, aber auch für viele PolitikerInnen , Behörden und alle wichtigen Stellen in Deutschland. Einige Zitate in O-Ton:

„Unter uns sind viele Enkelkinder der ersten Generation. Ihre und meine Eltern haben dieses Land mit aufgebaut und stark gemacht. Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ist Ihr Verdienst. Und ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bei Ihnen allen für Ihr Engagement, Ihren Glauben an Deutschland und Ihre Leistungen für diese Generation bedanken. Das moderne Deutschland von heute ist ohne die Menschen mit türkischen Wurzeln nicht denkbar. Sie arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen. Vom Polizeidienst, in der Justiz, im Lehrberuf bis hin zum Gesundheitswesen, als KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen. Sie leisten wissenschaftliche Pionierarbeit, moderieren Fernsehsendungen, gewinnen Migrantinnen und Migranten für Deutschland, engagieren sich politisch und ehrenamtlich, prägen Deutschland wirtschaftlich und kulturell. Die erste Einwanderergeneration, wo Deutschland sie als Gastarbeiter nach Deutschland eingeladen hat, hat hier die Grundlagen dafür gelegt, dass aus Arbeiterkindern UnternehmerInnen geworden sind“.

Herkunft spielt keine Rolle mehr: Wir sind deutsche UnternehmerInnen

„Die Erfolgsgeschichte dieser Deutsch-Türken und Deutsch-Türkinnen habe ich als ATIAD-Präsident in der Vergangenheit erzählt und diese Erfolgsgeschichte geht weiter. Ich verzichte aber heute darauf, die Zahl, den Umsatz oder die geschaffenen Arbeitsplätze der deutschtürkischen Unternehmerinnen und Unternehmer zu aktualisieren. Sie sind heute fester Bestandteil der deutschen Wirtschaft und es sind deutsche Unternehmen und darauf sollte es ankommen, auch wenn es deutsch-türkische Unternehmerinnen und Unternehmer sind. Wir sollten aufhören zu zählen, ob sie in der dritten, vierten Generation sind, ob sie 130 Tausend oder 200 Tausend UnternehmerInnen in Deutschland sind, ob sie 60 oder 90 Milliarden Euro Umsatz in Deutschland machen oder in welchen Branchen sie wie oft vertreten sind. Nicht um diesen Menschen ihre Wurzeln oder ihre Herkunft zu nehmen, sondern weil es keine Rolle spielen soll, woher man kommt, wenn man in Deutschland eine Wohnung sucht, eine Schule besucht oder ein Vorstellungsgespräch hat. Niemand soll seine Herkunft und seine Wurzeln verleugnen müssen. Hier in Deutschland zu Hause zu sein, ist auch meine Heimat.“

„Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund“

„Wir sind keine Gäste mehr in diesem Land. Wir, die Türkischstämmigen, sind keine Menschen mit Migrationshintergrund, sondern Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund. Darauf sind wir auch stolz und das sollten wir auch akzeptieren. Wer die Augen davor verschließt, Menschen nach ihrer Herkunft oder Religion beurteilt, wer Hass und Hetze verbreitet und die Ausweisung von deutschen StaatsbürgerInnen und Bevölkerungsgruppen fordert, weil sie sich nicht assimilieren wollen, der spaltet nur die deutsche Gesellschaft. Menschen und Parteien, die in diesen Zeiten auf Populismus, plumpe Parolen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie setzen wollen. Das dürfen wir nicht zulassen. Dies ist nicht mein und auch nicht unser Deutschland.  Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Türkei und umgekehrt, die Handelsbilanz zwischen beiden Ländern wird 2023 mit 55 Milliarden Euro einen neuen Rekord erreichen.

Türkei mit ihrer geostrategischen Lage als  deale Energiedrehscheibe für die EU

„Die Türkei mit ihrer geostrategischen Lage ist die ideale Energiedrehscheibe für Europa mit enormen Potenzial für die Wirtschaft. Die Türkei hat ein enormes Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff aus erneuerbaren Energien und ist ein wachsender Markt dafür. Sie ist wichtig für Deutschland, weil Deutschland diese Energie aus der Türkei als Partnerland leicht beziehen kann.“

Türkei braucht die EU, die EU braucht aber auch die Türkei

„Die Türkei braucht die EU, aber die EU braucht auch die Türkei. Unabhängig von der politischen Situation in der Türkei darf die EU ihre Beziehungen zur Türkei nicht abreißen lassen. Es liegt im Interesse der EU, über die aktuelle Situation hinauszudenken. Auch eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei ist realistisch. Die EU-Türkei-Zollunion sollte so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden. Eine Modernisierung der Zollunion auf Agrarprodukte, von Dienstleistungen verspricht große Möglichkeiten für deutsche und türkische UnternehmerInnen. Lassen wir uns diese Chance nicht entgehen“

(Birol Kilic, Analyse und Beobachtungen aus Dusseldorf, 5.04.2024)

PS: Als Österreicher und Wiener Publizist, Verleger und Unternehmer mit türkischen Wurzeln habe ich einige kurze Notizen aus meinen eigentlich langen Beobachtungen dieses interessanten Wirtschaftstages gemacht, den wir als Verlag auf eigene Kosten besucht haben. Düsseldorf ist wirklich eine sehr schöne und in ihrer Ursprünglichkeit treu gebliebene deutsche Stadt.

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