Public Diplomacy: Österreich und die Türkei mit Wiener Balldiplomatie im Schatten Atatürks

ISTANBUL/WIEN. Die türkischsprachige Analyse des Verlegers und Publizisten Birol Kilic aus Wien erschien in gekürzter Form am 25.08.2024 in der türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“ (dt.: Republik, gegründet 1924), die in der Türkei überregional erscheint und als seriös, intellektuell und investigativ gilt, unter dem Titel „Wien, die Hauptstadt der Bälle“ an prominenter Stelle auf Seite 2 der gedruckten Zeitung. Eurotopics bezeichnet Cumhuriyet  als „eine der letzten Oppositionszeitungen der Türkei

Wir veröffentlichen die Langfassung des Textes unter dem Titel, „Österreich und Türkei mit Wiener Ball-Diplomatie!“

 

Die aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzte Langfassung des Analysetextes lautet wie folgt

Österreich und die Türkei mit Wiener Ball-Diplomatie!

Birol Kılıç, Analysen und Beobachtungen aus Wien, 25.08.2024,

Wenn man an Wien denkt, eine Stadt, die in der Geschichte der beiden Länder Österreich und Türkei in den letzten 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat, denkt man unweigerlich auch an eine wunderbare Ballkultur, die auf den Wiener Kongress 1814/15 zurückgeht, an die Wiener Oper, an klassische Musik und an die Wiener Philharmoniker, das beste Symphonieorchester der Welt.

Nicht umsonst hat das Land, das so viele große österreichische Künstler wie Joseph Haydn, Michael Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Arnold Schönberg, Franz Schubert, Johann Strauß I und II, Gustav Mahler und viele andere hervorgebracht hat, diese Kultur sowohl materiell als auch heute geistig am Leben erhalten.

Öffentliche Diplomatie-Public Diplomacy

Findet jedes Jahr Anfang September in jeder Stadt der Welt ein Vorbereitungstreffen für den Ball statt? Ja, nur in Wien! In Wien finden von November bis März in kurzer Zeit mehr als 450 Bälle aller Berufsgruppen, ob groß oder klein, statt, die der Stadt durch Hotels, Kongresse, Catering, Restaurants, Werbeagenturen, Taxieinnahmen usw. einen Überschuss von mehr als 200 Millionen Euro bescheren.

(c) Wiener Staatsoper(AshleyTaylor)
(c) Wiener Staatsoper ( Katharine Schiffl )

Die Ballsaison beginnt in rund zweieinhalb Monaten, am 11. November 2024, und erreicht ihren Höhepunkt am 27. Februar 2025 mit dem „Wiener Opernball“, dessen Besuch für jedermann erschwinglich ist, der aber in der Regel strengen Kleider- und Verhaltensregeln unterliegt, die in den letzten Jahren angeblich gelockert wurden. Vor allem junge Menschen, die diese Bälle besuchen, wollen sicher sein, dass sie sich in Bezug auf Umgangsformen, Gesten, Höflichkeit, Sitzen und Stehen zivilisiert verhalten und dies auch bestmöglich repräsentieren.

Der Wiener Opernball, die Krone aller Bälle nicht nur in Wien, sondern in der ganzen Welt, wird von der Republik Österreich und der Stadt Wien als „Kulturdiplomatie“ mit viel Liebe und Respekt als Kulturgut vorbildlich unterstützt und gilt de facto auch als wichtigste Etappe der „Soft Power“, der „Public Diplomacy“. Der Wiener Opernball ist das Aushängeschild der Stadt Wien, in der sich auch unser Lebensmittelpunkt befindet, mit seiner majestätischen Kulisse, der eleganten Ballkleidung, der abwechslungsreichen Musik in verschiedenen Sälen, vor allem aber mit der wunderbaren klassischen Musik der Wiener Philharmoniker auf dem Höhepunkt der Romantik.

Ballkultur im Osmanischen Reich

Die Bälle, die im 19. Jahrhundert für Österreich, England und Frankreich zu einer Form der öffentlichen Diplomatie wurden, zogen die Aufmerksamkeit der osmanischen Bürokraten und Sultane auf sich. Während der Herrschaft von Mahmut II. zögerten die osmanischen Bürokraten aus diplomatischen und politischen Gründen, an dem von den Briten 1829 in Istanbul organisierten Ball nach dem Nachtgebet teilzunehmen, und hatten Probleme mit der Etikette. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass die Etikette für den Besuch von Bällen gelernt werden musste, und es wurden Kurse in Istanbul organisiert.

Hofschneider und die erste Herrenmodemarke der Welt – Knize

Im letzten KNIZE-Geschäft in Wien, damals auch Hofschneider, aber auch bekannt als die erste Herrenmodemarke des 19. und 20. Jahrhunderts, das ich persönlich besuchte, erfuhr ich, dass Sultan Abdülmecid II. und später Sultan Abdülaziz und ihre Bürokraten Bälle im Ausland besuchten und höchstwahrscheinlich bei Knize. Das 1858 gegründete Wiener Herrengeschäft, die erste berühmte Herrenmarke der Welt, bestellte und dass sogar ihre Körpermaße genommen wurden und noch heute aufbewahrt werden. Auch vonde Kaiser und Car. Knize warb damals als „das Herrengeschäft, in dem Könige, Kaiser, Zaren und Sultane eingekleidet wurden“. Und das nicht ohne Grund. Knize in Wien war das erste Herrenbekleidungsgeschäft der Welt mit der „Modemarke KNIZE“, das zu seiner Zeit, Ende des 19. und Anfang des 20. Auch die osmanische Regierung mit ihren Sultanen schätzte KNIZE aus Wien und förderte die Ballkultur als Kulturdiplomatie mit der Zeit unter ihren Bürokraten und nehmen teil.

  

Großer Respekt aus Wien

Das Herrenbekleidungsgeschäft KNIZE, das sich immer noch im ersten Wiener Bezirk Graben befindet, wurde einst von Atatürk bei seinen Besuchen in Wien besucht. Im vergangenen Dezember 2023 besuchten wir KNIZE anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Republik Türkei und überreichten dem heutigen Besitzer, Herrn Rudolf Niedersüß, der auf die Hundert zugeht, ein eigens in Auftrag gegebenes Atatürk-Gemälde, das er mit großem Respekt entgegennahm und in der vorderen Ecke von Knize aufhängte. Der sanftmütige Wiener, dessen Augen bei der Erwähnung Atatürks aufleuchteten und der jung geblieben ist, erzählte, dass Atatürks Kleidungsstil auf diesem Bild damals bei Knize verkauft wurde und betonte, dass die osmanischen Sultane zu seinen Kunden gehörten.

Herr Rudolf Niedersüß empfing Birol Kilic und erzählte über 1 Stunde lang die Geschichte von Knize, Kaisern und Sultanen.

Heute in der Türkei? Schlechter Start ins Jahr 2024  ohne live Wiener Philharmoniker

Heute können wir die Vertreter der Regierung in Ankara und ihre Allianzen leider weder in Wien noch in der Türkei auf einem Ball sehen. Aber sie tun in Wien vieles, was sie in der Türkei seit Jahren tun. …Seit Jahren! In der türkischen Presse war am 2. Januar 2024 zu lesen: „Wer es seit Jahren gewohnt ist, den ersten Tag des neuen Jahres am 1. Januar 2024 in der Türkei in seinem Wohnzimmer mit dem traditionellen Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker zu verbringen, der hatte einen schlechten Start ins Jahr 2024. Denn das Konzert, das in mehr als 90 Länder live übertragen wird, wurde dieses Jahr von der Regierung in Ankara nicht in das Programm von TRT Kanal-2 aufgenommen, das seit Beginn der Live-Übertragung aus Wien selbstverständlich in der Türkei live zu sehen war. Internetbrowser und Social Media Accounts aus anderen Ländern halfen denjenigen, die das Neujahrskonzert sehen wollten. Vorausgesetzt, man hatte sich vorbereitet. Die Regierung in Ankara duldet nicht einmal das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1. Januar live für die Liebhaber klassischer Musik in der Türkei, die dank Atatürks moderner Türkei eine Selbstverständlichkeit ist und war“.

Atatürk und der Wiener Walzer

Atatürk pflegte die Wiener Ballkultur und fungierte als Botschafter des Wiener Balls. In Anbetracht der Tatsache, dass der Walzer zu dieser Zeit die größte Popularität genoss, avancierte er zum bevorzugten Tanz des türkischen Staatsmannes. Diese Leidenschaft Atatürks hatte einen maßgeblichen Einfluss auf die Modernisierung der klassischen Tanzmusik in der Türkei, die ab 1923 zum Vorbild für andere muslimische Länder weltweit wurde. Eine Analyse der Bilder aus den Jahren 1923 bis 1970 aus dem Iran, dem Irak, Syrien, Afghanistan, Tunesien und Algerien verdeutlicht dies. Ab 1960 kam es in der Türkei sowie in weiteren Ländern zu einer Gegenrevolution seitens der Amerikaner und Engländer. Diese strebten eine grüne, fundamentalistische, liberale Demokratie an, welche sie mittels Militärputschen und der Unterstützung reaktionärer Sekten und Parteien in der Türkei etablieren wollten. Hierbei wurde die NATO als Instrument eingesetzt. In der Rückschau betrachtet, kann diese Politik als Fehler identifiziert werden, jedoch ist eine Korrektur nicht mehr möglich.

Mustafa Kemal Atatürk hegte eine Vorliebe für das Tanzen und ermutigte seine Mitmenschen wiederholt, sich diesem Vergnügen hinzugeben.

Mustafa Kemal äußerte sich wie folgt: „Eine Nation ohne Kunst bedeutet, dass eine ihrer Lebensadern durchtrennt wurde.“ Der Tanz, insbesondere die verschiedenen Tänze der einzelnen Regionen Anatoliens und der Wiener Walzer, zählten zu den Künsten, denen Atatürk höchste Bedeutung beimaß.

Atatürk nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um die Menschen zum Tanzen zu ermuntern. Bälle und Tanzveranstaltungen waren ihm nicht fremd. Ali Fuat Cebesoy berichtet in seinen Memoiren, dass Mustafa Kemal in Thessaloniki, seinem Geburtsort, innerhalb kurzer Zeit die Fähigkeit erlangte, den Wiener Walzer auszuführen. Während seines Studiums an der Kriegsschule unterrichtete er diesen sogar zwischen den Vorlesungen seinen Freunden. Überliefert ist, dass er bei den Tanzveranstaltungen in der Cumhurbaskanligi Sarayi Çankaya, welche ebenfalls auf Anordnung Atatürks durch den österreichischen Architekten Clemens Holzmeister errichtet wurde, sowie im Ankara Palas eine überaus fröhliche und tanzfreudige Person war. Er drehte sich mit seinen Partnerinnen und Partnern im Kreis, wobei er die vorbeigehenden jungen Leute mit den Worten „Wir müssen leben, wir müssen am Leben bleiben“ zum Tanzen aufforderte.

Bis heute existiert kein vergleichbares Beispiel. Atatürk, der das Wesen der Kunst und die Liebe zu den Menschen sehr gut kannte und sich als Ausdruck seines Zivilisationsverständnisses für alle schönen Künste interessierte, organisierte nach 1930 in vielen Städten der Türkei, insbesondere in Ankara, Istanbul und Izmir, Bälle und Tanzveranstaltungen. Atatürk hatte bereits in seiner Kindheit Gesellschaftstänze wie Polka, Mazurka, Quadrille und Walzer erlernt und sich auf diesem Gebiet ein beachtliches Expertenwissen angeeignet.

Die EU und ihre unverantwortliche Appeasement-Politik

Es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet der Gründer der modernen Republik Türkei, Atatürk, der als erster, einziger und letzter in einem mehrheitlich muslimischen Land den Laizismus in der Verfassung verankert hat, die Herzen der Menschen weltweit und insbesondere in Wien auch nach 100 Jahren noch besonders bewegt.

Im Jahr 2024 ist in Wien, das sich – ob wir es wollen, akzeptieren oder nicht – zu einem multikulturellen Schmelztiegel entwickelt hat, das Bewusstsein für die Bedeutung des Laizismus und Säkularismus, wie ihn Atatürk bei der Gründung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 in der türkischen Verfassung verankert hat, nach wie vor präsent und von noch größerer Bedeutung als damals.

Dies ist vor allem vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Österreich ein Land ist, in dem Musliminnen und Muslime aus verschiedenen Ländern leben, die den freiheitlich-demokratischen, pluralistischen und säkularen Rechtsstaat nicht kennen. Die Mehrheit der Menschen aus der Türkei aber schon, diesen Wert müssen wir anerkennen und nicht verantwortungslos mit den Achseln zucken und mit dem Wahlprogramm „Sicherheit“ gegen den politisierten Glauben auch dort gewinnen wollen, wo die Spreu vom Weizen schwer zu trennen ist. Vorsicht! Die Arroganz der Macht kann in Österreich schon schädlich sein.

Denn die Frage der Trennung von Staat und Religion, die für autochthone ÖsterreicherInnen selbstverständlich ist, nicht aber für Muslime aus allen Ländern, wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Die Regierung in Ankara, die Wien wie die gesamte EU als Hinterland betrachtet, strebt derzeit eine Verfassungsänderung an, in deren Rahmen auch folgender Artikel 2 der türkischen Verfassung gestrichen und geändert werden soll: „Die Republik Türkei ist ein demokratischer, säkularer und sozialer Rechtsstaat, der auf den in der Präambel genannten Grundprinzipien beruht, die Menschenrechte achtet und im Geiste des sozialen Friedens, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit lebt. Dies sollte für die EU Anlass sein, ihre Politik zu überdenken und nicht länger auf eine unverantwortliche Appeasement-Politik gegenüber der Regierung in Ankara zu setzen, gegenüber ihren WählerInnen in den eigenen Ländern (Österreich und EU), die jetzt und in Zukunft noch viel stärker betroffen sein werden. Wir warnen seit 35 Jahren von Wien aus, trotz Drohungen und Verleumdungen.

Das Herz im Walzertakt?

Denken Sie an die heutige Türkei und ihre politischen Führer, die Sie kennen, und sagen Sie nicht, was Ihnen Ihr Herz im Walzertakt sagt. (Birol Kılıç, Analysen und Beobachtungen aus Wien, 25.08.2024)

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