Ist die EU schuld am Wählerschwund von ÖVP und SPÖ?

von Stefan Beig, 18.10.2024, Analyse

Ein Jubiläum ist heuer fast unbemerkt über die Bühne gegangen: Vor 30 Jahren, am 12. Juni 1994, stimmten 66,58 Prozent der Österreicher für den EU-Beitritt. Es sollte die letzte weitreichende Entscheidung der rot-schwarzen Koalition sein, die damals unter Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und Vizekanzler Erhard Busek (ÖVP) auch zum letzten Mal eine kurze Phase der Harmonie und Einigkeit erlebte.

Eine Erfolgsstory für die heimische Exportwirtschaft

Fonds Soziales Wien

Die politischen Wegbereiter des österreichischen Schritts in den europäischen Staatenverbund sehen im EU-Beitritt bis heute den Beginn einer Erfolgsgeschichte – natürlich zu Recht. Österreichs Wirtschaftskraft hat sich seither vervielfacht, was sich vor allem im Außenhandel widerspiegelt: Das Volumen der Warenexporte stieg von damals 37 Milliarden Euro auf den Rekordwert von 201 Milliarden Euro im Jahr 2023. Tausende Arbeitsplätze wurden geschaffen. Der EU-Binnenmarkt hat der heimischen Wirtschaft hohe Kosten erspart, denn rund 70 Prozent des Außenhandels werden mit EU-Staaten abgewickelt.

Auch von der EU-Osterweiterung hat Österreich stark profitiert. In den mittel- und osteuropäischen Ländern zählt es zu den wichtigsten ausländischen Investoren. Im Falle eines Austritts wären die Verluste beträchtlich, wie WIFO-Chef Gabriel Felbermayr kürzlich vorrechnete: Das Bruttoinlandsprodukt würde um geschätzte 24 bis 47 Milliarden Euro sinken, kurzfristig sogar um das Doppelte. Pro Kopf würden 2735 bis 5190 Euro verloren gehen.

EU und Volksparteien verlieren an Zustimmung

Dennoch: 30 Jahre später ist die Begeisterung der Österreicherinnen und Österreicher für die Europäische Union verflogen. Bei der letzten Eurobarometer-Umfrage im vergangenen Jahr bewerteten nur noch 42 Prozent die EU-Mitgliedschaft als positiv. Das war der schlechteste Wert in der gesamten EU. Der EU-Durchschnitt lag bei 61 Prozent.

Auch die Zustimmung zu den beiden ehemaligen Volksparteien ist seither gesunken: Im Juni 1994 konnten sich SPÖ und ÖVP noch über 75 Prozent der Stimmen und eine stabile Zweidrittelmehrheit freuen. Bei der letzten Nationalratswahl am 29. September 2024 erreichten sie nur noch 47,41 Prozent. Worüber kaum jemand spricht: Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen dem sinkenden Ansehen der EU und dem Wählerschwund der beiden Parteien. Denn trotz aller Erfolge hat die EU in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder für Unmut unter den Österreichern gesorgt.

Befürchtungen vor der Euro-Einführung haben sich bewahrheitet

Die Versprechungen, der Euro werde so hart wie der Schilling, haben sich nicht bewahrheitet. Heute ist die europäische Währung so weich wie die italienische Lira. Für ein Volk von Sparern, zu denen die Österreicher jahrzehntelang in der Schule erzogen wurden („Sparefroh“), ist das schmerzhaft.

Schon vor 31 Jahren bezeichneten 62 deutsche Wirtschaftsprofessoren das Euro-Abenteuer als „Gefahr für Europa“. Sie verwiesen auf die unterschiedlichen „Wirtschaftsstrukturen der Mitgliedsländer“. Weitsichtig prognostizierten sie, dass „insbesondere das Inflations- und Defizitkriterium … politisch verwässert“ würden. Gleichzeitig würden „wirtschaftlich schwächere europäische Partnerländer“ – man denke an Griechenland oder Italien – „hohe Transferzahlungen“ benötigen.

Und so kam es dann auch: Das Ziel der Preisstabilität wurde immer weiter aufgeweicht, gleichzeitig verletzten die Euro-Staaten unzählige Male die Stabilitätskriterien, vor allem dann, wenn bei ihnen Budgetdefizite schon vor der Euro-Einführung an der Tagesordnung waren. Das galt gerade für jene wirtschaftlich schwächeren Länder, denen die EU dann immer wieder mit Transferzahlungen in der Höhe von mittlerweile hunderten Milliarden Euro unter die Arme griff. Österreich gehört zu den Zahlmeistern – und das kommt hierzulande nicht gut an.

Bürokratisierung nimmt Unternehmen die Luft zum Atmen

Gravierend für die heimische Wirtschaft ist die zunehmende Überbürokratisierung, etwa durch das Lieferkettengesetz und die ESG-Kriterien (Klimaschutz, Soziales, Unternehmensführung). Sie nimmt den Unternehmen die Luft zum Atmen. Die EU stagniert wirtschaftlich. Ostasien und die USA sind innovativer, vor allem im IT-Bereich.

Selbst Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), ein glühender EU-Befürworter der ersten Stunde, kritisierte im Frühjahr die ausufernde Überregulierung. Zudem würden „die meisten Entscheidungen hinter verschlossenen Türen“ getroffen und dann von den EU-Institutionen einfach „durchgewunken“. Stattdessen müssten klare Prioritäten gesetzt werden.

EU bekommt ewige Asylkrise nicht in den Griff

Ein weiteres Problem, das Österreich besonders betrifft und das auch bei den Nationalratswahlen eine immer größere Rolle spielt, ist die Asylkrise. Als attraktiver Wohlfahrtsstaat zieht das Land viele Migranten an. Der EU ist es bisher nicht gelungen, die Asylproblematik in den Griff zu bekommen und nachhaltig zu lösen – und unter den gegebenen europarechtlichen Rahmenbedingungen scheint dies auch kaum möglich. Dazu haben das EU-Vertragsrecht, die EU-Grundrechtecharta und die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der die Grundrechtecharta auslegt, beigetragen.

Vertragsänderungen müssten von allen EU-Staaten einstimmig beschlossen werden, was nicht zu erwarten ist. Immer mehr Menschen wünschen sich einen Asylstopp mit Abschiebung in die Herkunftsländer und Einreiseverweigerung an der Grenze. Dies ist derzeit aber nur unter Missachtung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes möglich.

Koalitionen von ÖVP und SPÖ fast immer EU-freundlich

Die Österreicher erleben die EU zunehmend als Verursacher immer größerer Probleme, die sie selbst auf demokratischem Wege nicht mehr lösen können. Manche beneiden inzwischen die benachbarte Schweiz, die als Nicht-EU-Staat mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 100.413 Euro zu den reichsten Ländern Europas zählt. Zudem haben die Bürger dort dank der direkten Demokratie – auch auf kantonaler Ebene – die Möglichkeit, sich tatsächlich an politischen Entscheidungen zu beteiligen. In einem EU-Staat, in dem viele Gesetze von der EU-Gesetzgebung beeinflusst werden, ist dies nicht mehr so einfach möglich.

In einer solchen Situation kann eine EU-kritische Regierung bei der Bevölkerung besser punkten. Sie gilt dann als weniger „EU-hörig“ und bereit, die Interessen der Österreicherinnen und Österreicher in Brüssel zu vertreten. Gerade einer Koalition aus ÖVP und SPÖ wird dies aber kaum gelingen.

In der ÖVP verfolgen einige einen Pro-EU-Kurs, andere fordern mehr Subsidiarität. Auch in der Linken sind nicht alle von der EU begeistert. Manche fürchten um den Fortbestand des nationalen Wohlfahrtsstaates. Bei den Freiheitlichen wollen einige mehr Subsidiarität, andere mehr nationalen Wohlfahrtsstaat. Sollten FPÖ und SPÖ also eines Tages eine Koalition bilden, könnten sie eine Stärkung des nationalen Wohlfahrtsstaates planen – auch gegen die EU. Türkis-Blau wiederum hatte sich unter Sebastian Kurz auf die Formel „Mehr Subsidiarität“ geeinigt. In einer Koalition aus ÖVP und SPÖ hingegen haben die EU-Befürworter in beiden Lagern die Oberhand. Doch eine EU-freundliche Politik wirkt in Österreich derzeit eher abgehoben und bürgerfern – ob zu Recht oder nicht. (von Stefan Beig, 18.10.2024, Analyse)

Stefan Beig ist freier Journalist in Wien und schreibt unter anderem für die Neue Heimat Zeitung ( Yeni Vatan Gazetesi).

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