Ist ein Kanzler Kickl wahrscheinlicher als viele denken?

Geschieht in Österreich das bisher Undenkbare? Derzeit will keine Partei mit einer FPÖ unter Herbert Kickl koalieren – doch Vorsicht! Der Schein trügt. Schon in wenigen Wochen könnte die Brandmauer gegen einen Kanzler Kickl wackeln.

von Stefan Beig, 04.10.2024 Analysen und Beobachtungen aus Wien

Fünf Tage nach der Nationalratswahl scheint zumindest eines sicher: Der Wahlsieger FPÖ wird nicht den nächsten Bundeskanzler stellen – und das, obwohl Herbert Kickl mit einem Rekordzuwachs von 12,6 Prozentpunkten erstmals in der Zweiten Republik Platz eins für die Freiheitlichen erobert hat. Doch Kickls scharfe Rhetorik und sein harter Kurs in Migrations- und Asylfragen polarisieren und stoßen viele ab, auch die politische Konkurrenz: Niemand will mit ihm koalieren. Daher gehen viele derzeit von einer Ampelregierung aus ÖVP, SPÖ und – wahrscheinlich – NEOS aus. Aber: Der Schein trügt. Schon in wenigen Wochen könnte die Brandmauer gegen einen Kanzler Kickl wackeln.

Derzeit scheint der Kanzlersessel für Herbert Kickl vor allem deshalb außer Reichweite, weil sich ÖVP-Chef Karl Nehammer zwar eine Koalition mit der FPÖ vorstellen kann, nicht aber mit Kickl an der Spitze, den er für ein „Sicherheitsrisiko“ und einen „Verschwörungstheoretiker“ hält. Zudem wäre der Widerstand gegen eine freiheitliche Kanzlerpartei im In- und Ausland enorm.

Fonds Soziales Wien

Die anderen Parteien lehnen ein Bündnis mit der FPÖ strikt ab. Eine Drei-Parteien-Koalition hätte nicht mit so heftigen Protesten zu rechnen. Außerdem wäre sie für die Volkspartei viel verlockender: Sie könnte wieder den Kanzler stellen.

Wünscht ein großer Teil der Wähler tatsächlich ein Bündnis zwischen FPÖ und ÖVP?

Das letzte Wort hat in einer Demokratie aber der Wähler, und der könnte die Volkspartei für das Eingehen eines solchen Dreierbündnisses durchaus abstrafen. Denn bei vielen wichtigen Themen hat die ÖVP inhaltlich einfach mehr Schnittmengen mit der FPÖ als mit der SPÖ – und auf Inhalte kommt es den Wählern an. Österreich hat derzeit mit einer Migrations – und einer Wirtschaftskrise zu kämpfen, beides wird von den Menschen als Wohlstandsverlust und Überforderung der Politik durch immer mehr Asylwerber wahrgenommen.

Auf einen Asylstopp und Wirtschaftswachstum durch Steuersenkungen können die Österreicher in einer Koalition mit SPÖ-Chef Andreas Babler kaum hoffen, und wegen dessen Statutenreform können die SPÖ-Granden den Bundesparteichef auch nicht so schnell auswechseln. Babler dürfte daher SPÖ-Chef bleiben, vorerst ohne starke innerparteiliche Opposition.

Eine FPÖ-ÖVP-Koalition wird polarisieren, kann aber mit breiter Zustimmung rechnen. Darauf deuten das Wahlergebnis und die Umfragewerte hin. Mit seinem Nein zu einem Kanzler Kickl könnte Nehammer den Zorn konservativer, der ÖVP nahestehender Schichten auf sich ziehen, die in ihm das einzige Hindernis für das Zustandekommen der populärsten Koalitionsvariante sehen. Tritt der ÖVP-Chef dann nicht zurück, um den Weg für eine FPÖ-ÖVP-Koalition frei zu machen, könnte ihm Kickl vorwerfen, den Kampf um sein politisches Überleben über den Wählerwillen zu stellen.

Kann eine Ampel-Koalition in Österreich besser funktionieren als in Deutschland?

Derzeit gibt es weder bei der ÖVP noch bei der SPÖ eine Obmann-Debatte – trotz schlechter Wahlergebnisse. Auch Nehammer will weitermachen. Es bleibt abzuwarten, wie er die Weichen stellt und wie seine Partei darauf reagiert.

Besonders auffällig: Selbst der ehemalige SPÖ-Finanzminister Hannes Androsch zweifelt an der Stabilität einer Dreier-Koalition. „Wir brauchen keine Wiederholung der deutschen Ampel-Koalition. Wenn die dort schon nicht funktioniert, sind die Voraussetzungen bei uns noch schlechter“, sagte er der „Kleinen Zeitung“. Tatsächlich stünden zwei Wahlverlierer an der Spitze, ein gefundenes Fressen für Herbert Kickl: Von der Oppositionsbank aus könnte er sich zum wahren „Volkskanzler“ ausrufen und noch stärker als bisher gegen das Establishment wettern.

Auch die Landeshauptleute haben ein Wörtchen mitzureden

Wird sich die ÖVP aus all diesen Gründen also doch für Blau-Schwarz entscheiden?

Viele werden dem energisch widersprechen. Ihre Haupteinwände: „Der Kanzlersessel ist der ÖVP doch wichtiger und Herbert Kickl als Kanzler viel zu unberechenbar und riskant. Und sollte die österreichische Ampel-Koalition tatsächlich in der Wählergunst abstürzen, könnten die Landeshauptleute auf ein Ende der Dreier-Koalition drängen“. Dann gäbe es Neuwahlen, vielleicht mit einem politischen Comeback von Sebastian Kurz.

Das ist möglich. Vielleicht kommt es aber gar nicht so weit. Denn zwei entscheidende Landtagswahlen stehen bereits vor der Tür, und bei beiden droht ein blauer Erdrutschsieg: Am 13. Oktober wählen die Vorarlberger einen neuen Landtag, am 24. November die Steirer. Bei zwei Siegen der FPÖ auf Kosten der ÖVP könnte sich die Einstellung der Volkspartei zu einer Koalition mit der FPÖ unter Kickl schneller ändern als man denkt. Also: Der Schein kann trügen. Schon in wenigen Wochen könnte die Brandmauer gegen einen Kanzler Kickl wackeln. (von Stefan Beig, 4.10.2024, Analyse und Beobachtungen aus Wien)

Relevante Artikel

Back to top button